von
Annegret Kronenberg
Da ist ein Baum.
Ein schöner, kräftiger Baum. Nicht mehr ganz jung, etwas
knorrig schon. Seit vielen Jahren steht er, ein wenig abseits, an seinem
Platz und behütet stolz sein Fleckchen Erde. Unter seinen mächtigen
Wurzeln bewahrt er viele ihm anvertaute Geheimnisse. Seine Abseitsstellung
ermöglichte ihm eine freie Entfaltung und ließ ihn groß und stark
werden, aber auch sehr sensibel. Selbst der kleinste Windhauch lässt
seine Blätter leise erbeben. Inzwischen gesellten sich ein paar kleine
Bäumchen zu ihm. Schützend breitet der Baum seine mächtige Krone über sie
aus. Manchmal stecken sie ihre Köpfe zusammen oder streicheln sich sanft
mit ihren Zweigen. Natürlich fügten die Lebensstürme dem Baum kleine und
größere Wunden zu. Er steckte sie schweigend weg und ließ sie geduldig
vernarben.
Aber wenn einmal Blitz oder Sturm einem jungen
Bäumchen einen Ast zerfetzten, schmerzte es des großen Baumes
Mark. Liebend gern würde er einen seiner mächtigen Äste an seiner Statt
opfern. Ungezählte Male riss ihm der Herbststurm rücksichtslos das Kleid
vom Leibe. Nie wurde der Baum müde, sich immer wieder ein neues Gewand zu
weben. Keine Unbilden der Witterung haben den Baum je beugen können, wenn
seine Äste auch oft herzzerreißend knarrten. Viele gute und schlechte
Lebenserfahrungen haben ihn klug und weise gemacht. Oft kann man
beobachten, wie er den jungen Sprösslingen seine Erkenntnisse zu
raunt, und sie werden ganz still und lauschen. Möge dieser Baum noch
lange seine Kraft und seinen Lebenswillen behalten, die Sonne ihn noch oft
mit ihren Küssen verwöhnen und der Regen ihm regelmäßig den Staub vom
Kleide waschen.